
Das ist »Suzerain«
»Suzerain« Das vielleicht realistischste Videospiel über Politik
Das Kapitol in Washington, D.C., war in letzter Zeit oft in den Nachrichten zu sehen. Auch in »The Division 2« aus dem Jahr 2019 spielt es eine zentrale Rolle. Auf Werbematerial zum Videospiel sind schwer bewaffnete Milizionäre zu sehen: Gewehre in den Händen, die amerikanische Flagge am Rucksack verknotet. Sie blicken zur geschwärzten Kuppel des Kapitols, Rauch steigt von dort auf, Sandsäcke und Maschinengewehre befestigen den Zugang. Das politische Zentrum der US-Demokratie ist in »The Division 2« Schauplatz eines Shooters mit Multiplayer-Fokus.
Die Promo-Bilder von damals sind heute, nach dem realen Sturm auf das Gebäude, eine Provokation. Das alles sei aber »absolut kein politisches Statement«, hatte Creative Director Terry Spier schon 2018 in einem Interview mit einem mehrfach fassungslos nachfragenden Journalisten zu Protokoll gegeben – zu einem Spiel, das nach Eigenaussage immerhin vom »nächsten amerikanischen Bürgerkrieg« handelt.
Videospiele sind Entertainmentprodukte, Politik spielt in ihnen gar keine Rolle – das sind Aussagen, die man in den letzten Jahren immer wieder aus der Branche, aber auch von Spielerinnen und Spielern gehört hat. Die Branche will es sich so möglichst mit keinem potenziellen Kunden verderben, die Spielerschaft hat Angst um einen vermeintlich rein eskapistischen Rückzugsort und vor Vereinnahmung. Dabei haben Videospiele das Zeug dazu, schwierige Zusammenhänge und Mechanismen erfahrbar zu machen, wie sie in allen Gesellschaften wirkmächtig sind.
Unter anderem könnten Spiele handfest demonstrieren, wie Politik »funktioniert«. In anderen Medien jedenfalls interessiert sich das Publikum sehr für den Innenblick auf die Mechanismen der Macht. TV-Serien wie »House of Cards«, »West Wing« oder »Borgen« zeigen einen mal mehr, mal weniger authentischen Blick hinter die Kulissen der großen Politik. Schade, dass Videospiele diese Herausforderung nur selten annehmen.

Szene aus »Suzerain«: Das Spiel gibt es derzeit nur auf Englisch
Foto: Torpor GamesPolitik als Beruf – im Spiel
Das neue Spiel »Suzerain«, entwickelt vom Berliner Indie-Studio Torpor Games, fällt daher auf. Es ist explizit politisch, nicht im Sinne von politischer Parteinahme, sondern weil es trotz seiner fiktiven Welt, die entfernt an ein Mitteleuropa der Fünfzigerjahre erinnert, die reale Welt der Politik als Vorlage hat. Die erwähnten TV-Serien nennen die Macher ebenso als Inspiration wie Max Webers Essay »Politik als Beruf«, Macchiavellis »Il Principe« und Spiele wie »Tyranny« und »Orwell«.
Als frisch gewählter Präsident des Fantasiestaats Sordland haben Spielerinnen und Spieler ein schweres Erbe anzutreten: Nach Bürgerkrieg und Jahren der Diktatur erwacht die fiktive Republik mit der überraschenden Wahl eines Reformpräsidenten aus dem Dornröschenschlaf. Ein kommunistischer und ein »westlicher«, kapitalistisch orientierter Block wollen sich Einfluss sichern, ein Nachbarstaat droht mit zunehmendem Säbelrasseln, lang unterdrückte Minderheiten im Land fordern mehr Mitspracherecht und eine Wirtschaftskrise will auch noch irgendwie bewältigt werden.
In anderen strategischen Politsimulationen wird direkt und mechanisch ins Regelwerk der virtuellen Politik eingegriffen: Spiele wie »Democracy« oder »Realpolitiks« bieten letztlich dynamische Modelle, bei denen die Spielerinnen und Spieler an den Parametern schrauben dürfen, um Bewegung und dann wieder Balance in komplex simulierte Systeme bringen zu können. »Suzerain« geht einen anderen Weg: Statt das Räderwerk seines Politik- und Gesellschaftsmodells als Sandkasten zum Experimentieren offenzulegen, erzählt das Spiel eine Geschichte, die immer wieder auch persönliche, ja intime Momente hat.
Es gibt viel zu lesen
Die Spieloberfläche ist genretypisch eine interaktive Landkarte. Doch Entscheidungen werden hier nicht in Tabellen und Menüs getroffen, sondern in Gesprächen mit Dutzenden Figuren, die diese Welt bevölkern: politische Weggefährten, Kontrahenten, Parlamentarier, Minister, Lobbyisten, Vertraute. Politik, das ist hier Überzeugungsarbeit, Koordination und Zweifeln, das Ringen um Kompromisse, die angesichts von Sachzwängen und Notlösungen immer fauler zu werden drohen. Idealismus kann man sich hier kaum leisten; Abstimmungen im Parlament scheitern, vermeintliche Freunde begehen Verrat und die eigene Familie droht am Druck des Amtes zu zerbrechen.
»Suzerain« ist weit mehr als eine Visual Novel, auch wenn sich das Spiel der Konventionen dieser narrativen Games-Nische bedient. Das heißt, dass die spannende Geschichte als – englischer – Text erzählt wird, während sich die immer wieder in Multiple-Choice-Dialogen zu treffenden Entscheidungen quasi »unter der Haube« auf den Zustand der Spielwelt auswirken. Es gibt viel zu lesen in diesem Spiel, 450.000 Wörter sind es den Entwicklern zufolge – so lang ist etwa auch »Der Herr der Ringe«.
Einmal durchspielen ist vielleicht zu wenig
Wegen der vielen Entscheidungsmöglichkeiten, die die Handlung in die eine oder andere Richtung vorantreiben, bekommen Spielerinnen und Spieler davon in einer Partie, die bis zu einem von mehreren möglichen Enden etwa zehn Stunden dauert, nur maximal die Hälfte zu sehen. Ein mehrfaches Durchspielen ist anzuraten – allein um herauszufinden, welche anderen Möglichkeiten es noch gegeben hätte.
»Für mich ist Politik das Aufeinanderprallen von Ideen und ein ständiger Versuch der gesellschaftlichen Optimierung«, sagt Ata Sergey Nowak, der Chef von Torpor Games. »Und sie ist eine Schlüsselmaschine zur Verbesserung der Welt.«
Die Arbeit an dieser Verbesserung wird in diesem Spiel nicht als abstraktes Schrauben an dürren Modellen gezeigt, sondern als Ringen um Konsens, das untrennbar mit den Persönlichkeiten, mit der Vorgeschichte und dem Charakter der handelnden Menschen verknüpft ist. In dieser Hinsicht ist »Suzerain« das bislang vielleicht realistischste Spiel über Politik.
»Suzerain« ist für Windows und Mac erschienen und kostet 12,49 Euro.